Liebe, Schuld, Macht

Gast

Meine Geschichte begann am 07. Juli 1991, einem regnerischen Sommertag, an dem ich im Wohnzimmer meiner Großmutter ein Mädchen zur Welt brachte. Ich weiß noch genau, wie sich das Licht in der vorm Fenster hängenden Kristallkugel brach und kleine Regenbögen an die Wand zauberte. Meine Großmutter streichelte meinen Kopf, hielt meine Hand und beruhigte mich; Tränen des Schmerzes, der Liebe und der Ohnmacht kullerten meine Wangen hinab, ich krallte meine roten Fingernägel in den abgenutzten Stoff des Sofas und kämpfe wie eine Löwin.
Um 16.30 Uhr an diesem Sommernachmittag erblickte meine Tochter Juliana Veronika das Licht dieser regnerischen, aber warmen Welt.

Ich war 15 Jahre alt.

Juliana war das schönste Baby der Welt - noch nie zuvor hatte ich so etwas empfunden. Nicht für meine Eltern, die mich in der schönen Villa aufgezogen hatten, nicht für meine Großmutter, die immer an meiner Seite war... nicht für Fabian, der mir meine Unschuld und mein Herz geraubt hatte.
Dieses ganz spezielle Gefühl der bedingungslosen, herzzerreißenden, unwiderruflichen Liebe überschwemmte mich und ich konnte es mit meinem 15 Jahren kaum begreifen, dass dieses kleine, drei Kilo schwere Geschöpf mich ohne etwas zu tun um den Finger gewickelt hatte.

Eigentlich hatte ich das Baby sofort nach der Geburt abgeben wollen, doch ich konnte mich nicht von meiner Tochter trennen. Zu schön war sie, zu sehr duftete sie, zu sehr brauchte sie mich und ich sie. Es waren intensive Tage, wunderschön und schmerzhaft zugleich. Ich wusste, dass dieses Glück ein Verfallsdatum hatte, dass ich mein Herz nicht an dieses Prinzessin hängen konnte, ohne es für immer zu verlieren. Aber weil ich jung und naiv war, ließ ich es zu - und gab Juliana am 11. Juli 1991 zur Adoption frei.

Ich dachte, es wären Schmerzen, als Fabian mein 15-jähriges Mädchenherz gebrochen hatte, indem er mich und unser Baby verließ, um ein Jahr nach Kanada zu gehen. Doch die Qualen, die ich in den folgenden Wochen durchlitt, waren nichts im Vergleich zu dem, was ich je zuvor gefühlt hatte. Ich bekam eine schwere Depression, konnte wochenlang nicht aufstehen und lag antriebslos in abgedunkelten Räumen. Mein Herz pochte tapfer in meiner Brust, doch ich fühlte es nicht, zu schrecklich, zu erschütternd, wäre es gewesen, dieses Gefühl des Verlusts zuzulassen.
Ohne meine Großmutter hätte ich nichts gegessen, nicht gebadet, nicht gesprochen. Nur dagelegen, existiert, ohne es zu wollen.

Nach gut vier Monaten im Haus meiner Großmutter musste das Leben weitergehen. Ich kehrte zurück in die Villa meiner Eltern.
Die Nachbarn, die Eltern meiner Freunde, die reichen Bekannten meiner Familie hatten mich all die Zeit in einem Krankenhaus geglaubt und gratulierten mir - welch Ironie - zu meiner Genesung. Tapfer ließ ich es über mich ergehen, erzählte glauwürdig die Geschichte von starken Schmerzen und langer Behandlung im Krankenhaus. Außerdem besuchte ich wieder mein Gymnasium; um den verpassten Stoff aufzuarbeiten, musste ich öfter als die anderen am Nachmittag dort bleiben, doch mir war diese Ablenkung willkommen. Ich lernte gerne und viel und war schnell eine der Besten meines Jahrgangs. Meine Freundinnen akzeptierten meine Geschichte von der Krankheit und ich fand in meine alte Clique zurück. In manchen Augenblicken war ich wieder der fröhliche, unbeschwerte Teenager, der ich vor der Schwangerschaft war.

Jahrelang gelang es mir, das Problem gekonnt zu verdrängen. Die Gleichgültigkeit meiner Eltern kompensierte ich, indem ich mich mit Freunden traf. Michaela wurde meine beste Freundin, meine Seelenverwandte. Ich habe nie mit ihr über Juliana gesprochen, doch ich weiß, dass sie es immer irgendwie wusste.

Mein hübsches Gesicht und meine gute Figur kamen auch gut bei den Männern an. Mit 17 lernte ich Sebastian kennen, der mir eine große Stütze war. Mit 19 schloss ich meine Schule mit einem Einser-Abitur ab - 1,1. Ich durfte die Rede am Abschlussball halten und meine Eltern platzten vor Stolz auf ihre schöne, erfolgreiche Tochter.

Als ich dann auszog, um Medizin zu studieren, trennte ich mich von Sebastian und lerne Daniel, meinen jetzigen Ehemann, kennen. Er war liebevoll und wunderschön und mit 21 beschlossen wir, zu heiraten.

Eines Nachts, es war ein Freitag im August, lief ich die Straßen entlang. Ich war 22, Studentin, jung, schön und verheiratet - an Juliana hatte ich lange nicht mehr denken wollen.
Und da traf es mich plötzlich wie der Blitz - einige Meter vor mir auf dem Bürgersteig trug eine junge Frau ein schlafendes, etwas sieben Jahre altes Kind die Straße entlang. Mir wurde schwindlig, Tränen liefen mir über die Wangen, ohne, dass ich es bemerkt hätte. Ich war wie erstarrt, starrte nur das Kind an. Es war, als täte sich der Himmel über mir auf, als sähe ich ein Licht, etwas Übernatürliches, das mir zeigte: Das ist Juliana. Das ist deine Tochter. Wie hypnotisiert klebte mein Blick an diesem Mädchen wie eine Biene am goldenen Honigtopf. Meine Augen waren erfüllt von stummen Tränen der Liebe, die meinen Blick trübten, doch ich wusste dennoch ohne jeden Zweifel, dass dieses Mädchen, das dieselben wilden dunkelbraunen Locken hatte wie ich, das fehlende Puzzleteil war, das entscheidende Teil, das mein Leben vervollkommnen würde. Ich wollte dieser Frau folgen, ihr nachlaufen und ihr das Mädchen entreißen, doch meine Füße trugen mich nicht. Nein, dachte ich, nein, ich lasse mir mein Baby nicht ein zweites Mal wegnehmen! Doch ich tat - nichts. Und ehe ich realisierte, was da gerade passierte, wurde mir schwarz vor Augen und mein Körper schlug auf auf dem grauen, harten Asphalt.

Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis ich mich von diesem Abend erholt hatte. Geduldig bemühten sich gefühlte eintausend Psychologen darum, mir beizubringen, dass dieses Mädchen nicht meine Tochter gewesen war. Meine Eltern engagierten die besten Ärzte und mein Ehemann und meine Großmutter standen mir bei. Langsam lernte ich, dass das Mädchen auf der Straße nicht Juliana gewesen war, doch ebenso begriff ich, dass ich Juliana brauchte, um am Leben zu bleiben.
Meine ehemals blitzenden grünen Augen waren traurig geworden.

Ich tat alles, um meine Tochter zu finden, doch es war mir nicht möglich. Mein Wunsch nach einem zweiten Kind wurde umso größer, je länger ich vergeblich nach Juliana suchte.
Am 14. Februar 2002 brachte ich meine Tochter Emilia Valentina zur Welt. Dieses Gefühl, dieses betörende Gefühl, das ich nach Julianas Geburt gehabt hatte, ließ mein Herz auch bei Emilias Geburt schmelzen - doch die Wehmut blieb.

Ich kümmerte mich hingebungsvoll um Emilia, schloss mein Medizinstudium als Drittbeste des Jahrgangs ab und begann als Assistenzärztin der Chirurgie in einem Krankenhaus zu arbeiten.
Ich akzeptierte es, nahm es an. Lebte damit.

Bis 2007 schließlich meine 16-jährige Tochter vor meiner Tür stand.

Neben Emilias Geburt war dies der schönste Augenblick meines Lebens - da war keine Wehmut, kein Schmerz, kein Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Da war nur Juliana, blitzende grüne Augen, trotziger Blick, der Wind, der ihre wilden Locken durcheinanderblies. Ich war hingerissen, besoffen vor Glück und mit pochendem Herzen. Meine Fingerkuppen waren aus Liebe gemacht, als ich sie meiner Tochter entgegenstreckte.

Im Haus hagelte es Vorwürfe, es gab Tränen, Streit und Beleidigungen. Juliana war klug, scharfsinnig und bockig und ich liebte sie dafür. Endlich waren es nicht mehr Tränen der Resignation, sondern die der Wahrheit und des Lebens, die in diesem Haus geweint wurden.

Heute ist Juliana Studentin der Medizin, wie ich damals. Sie besucht mich regelmäßig und ich liebe sie unendlich.
Ich habe eine Therapie gemacht und bin heute Herzchirurgin - nie wieder werde ich zulassen, dass ein Herz zerbricht.

Und nie wieder werde ich zulassen, dass ich meine geliebte Tochter verliere.

Antworten

Gast

Eine schöne, aber auch wahre Geschichte?

Gast

Danke!

Gast

Super tolle Geschichte

Gast

Danke, liebe Line.
:-)

Gast

Wunderschön! Toll geschrieben!!!

Gast

Danke, das schmeichelt mir sehr!
Ich freue mich über eure lieben Kommentare.

Marita

Gast

Eine wunderschöne Geschichte. Ich war wirklich den Tränen nahe als ich es gelesen habe. Ich bin auch Malias Meinung du hast wirklich Talent dazu, wenn du es willst, solltest du es unbedingt versuchen, einem Verlag zu finden.
Ich finde es keinen Fehler andere an seiner berührenden Geschichte teilhaben zu lassen.
Danke für dieses wunderbare Erlebnis, ich denke mit deiner Geschichte kannst du nicht nur Menschen berühren und ihnen helfen sondern auch ein ganz anderes Licht auf Mütter, die ihre Babys auf diese Art verlieren, werfen.
Wirklich wunderschön.
Außerdem habe ich wirklich Respekt vor dir wie du mit all deinen Erlebten umgehst und auch umgegangen bist!

Gast

Wunderschön geschrieben und eine traurige Geschichte mit doch einem so tollen Ende. Du hast wirklich Talent dazu. Bring deinen Lebenslauf doch mal zu einem Verlag. Ich bin mir nicht sicher, ob du das möchtest, doch es würde bestimmt ganz vielen Menschen helfen, ihre eigene Trauer zu lindern.
Ich habe einen ähnlichen Fall in meiner Familie, leider gab es bisher noch kein Happy End.
Alles Gute!
Lg Malia

Gast

Herzzerreißend schön!

Gast

Danke für eure netten Kommentare, das freut mich.

Ja, das habe ich.

Schön, wenn ich euch berühren konnte.

Marita

Gast

So eine wunderschöne Geschichte.

Gast

Ich habe geweint als ich deine Geschichte gelesen habe.
Gott sei Dank ist alles gut ausgegangen!
Hast du ihr denn auch alles so beschrieben wie du es uns beschrieben hast?? Hoffentlich!!!!
Hat sie das alles verstanden??

Gast

Eine wunderschöne, bezaubernde und vor allem berührende Geschichte..

Gast

Wunderschön geschrieben!

Gast

Entschuldigt bitte die Tippfehlerchen.

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