Wenn das Leben zu früh beginnt.

Gast

Heute notieren wir den 06.06.2014. Es ist der Tag, an dem ich Vater zweier Töchter werden sollte. Sollte - den ich bin es schon. Seit 117 Tagen.
Am 01. Juni kamen meine Töchter Rosa und Sofia zur Welt. Sie liegen seitdem im St. Johannes-Hospital in Dortmund. Vier Monate denen die beiden mehr durchgemacht haben als mancher Erwachsene sein Leben lang.

Der Tag der Geburt, ein Sommermorgen. Um 5.45 Uhr klingelt das Handy: „Es geht los. Ich bin schon im Kreißsaal.“

Meine Frau ist in der 25. Schwangerschaftswoche. Sie trägt Zwillinge in ihrem Bauch. Bei einem Routinebesuch bei ihrer Frauenärztin eine Woche zuvor war festgestellt worden, dass der Gebärmutterhals nur noch 1,5 Zentimeter maß. Lebensgefahr für die Kinder. Denn normal sind vier. Seitdem hatte meine Frau strenge Bettruhe in der Klinik gehalten, das Gesäß angehoben, um den Druck zu verringern. Ein Arzt bei ihrer Einlieferung: „Ab jetzt zählt jede Stunde. Es gibt keinen besseren Platz für ihre Babys als den Mutterleib. Wir geben Ihnen Wehen-Hemmer. Und zur Sicherheit ein Medikament, das die Lungen der Kinder entwickelt. Falls die beiden sofort auf die Welt wollen.“

Jetzt wollen sie. Sofort. „Ich muss Schluss machen“, sagt meine Frau. „Keine Zeit mehr.“

Drei Minuten später sitze ich im Auto. Bei der Geburt unserer ersten Tochter, sie ist heute drei, war ich dabei. Jetzt springt ein Gedanke zum nächsten. Mir fällt ein Zeitungsartikel ein, der im Klinik-Flur hängt: „Halt durch, kleine Helena!“ So wollen wir eins unserer Mädchen nennen. Ich weiß, sie haben schon Kinder durchgebracht, die in der 22. Woche zur Welt kamen. Aber ich habe auch gelesen, dass Kinder, die vor der 32. Woche geboren werden, als extreme Frühgeburten gelten, die besonders gefährdet sind.

32. Woche. Da wären wir erst in sechs Wochen.

Sprint über vier Treppen zum Kreißsaal. Am Empfang sitzen Schwestern. „Ah, Herr Mandzukic. Nein, wir haben leider keine Informationen zu Ihrer Frau. Sie ist im Kreissaal. Sie mussten die Kinder holen. Bitte nehmen Sie Platz.“

„Sind meine Frau und meine Kinder hinter dieser Glastür gegenüber?“ – „Das sind sie.“

Ich will helfen. Aber was kann ich tun? Am besten nicht im Weg stehen. Vorsichtig blicke ich durch die Scheibe. Ich sehe besorgte, konzentrierte Ärzte und Schwestern in blauen Kitteln. Mindestens ein Dutzend. Sie tragen Mundschutz. Einige beugen sich über einen Tisch.

Liegen dort meine Kinder? Die Tür öffnet sich. Aus dem Raum dringt feuchtwarme Luft, wie im Regenwald. Die Schwestern und Ärzte schwitzen, sie schieben einen Kunststoff-Wagen, beklebt mit Kinder-Stickern. Kabel, Monitore – und eine Haube aus Plexiglas.

Ich blicke durch das Glas auf ein Bettchen. Dieses Geschöpf, meine Tochter. Unendlich klein, hilflos. Selbst das Frottee, in das es gebettet ist, dellt die hauchzarte purpurfarbene Haut.

In Nase, Mund, am winzigen Zeh, an der Brust – überall Schläuche und Elektroden. Sie atmet, sehr schnell. Der Wagen fährt mir davon, Richtung Neonatologie, die Frühgeborenen-Station.


„Sind Sie der Vater?“ Es ist der Arzt, der meine Kinder ins Leben geholt hat „Ich gratuliere. Sie sind Vater zweier Töchter geworden. Ihre Frau hat den Eingriff gut überstanden. Wir mussten einen Not-Kaiserschnitt vornehmen, denn die Wehen hatten stark eingesetzt. Die erste war eingeklemmt, sie musste sich der Wehen erwehren. Die zweite Tochter konnten wir gut entwickeln. Sie hat sogar geschrien. Alles Weitere müssen wir abwarten.“

Warten. Das bestimmt von nun an den Tag. Der erste Tag, die erste Woche, der erste Monat. Diese Hürden müssen meine Töchter nehmen. Ich erwische den leitenden Oberarzt. Vollbart, Jeans und Hemd. Er wirkt vertrauensvoll. Ich sehne mich nach guten Nachrichten: 690 Gramm, das ist doch ganz ordentlich?
„Wichtiger ist, ob die Organe der Kinder schon gereift sind. Das lässt sich künstlich nicht beschleunigen“, sagt der Oberarzt. „Es wäre unseriös, Ihnen etwas zu versprechen. Ich befürchte, es wird ein ständiges Auf und Ab. Ihre Kinder kamen früh, sehr früh. Erheblich ist, wie die Köpfchen die Geburt überstanden haben. Wir werden regelmäßig mit Ultraschall untersuchen. Wir hoffen, dass es keine Hirnblutungen gab – darüber lässt sich nach einer Woche etwas sagen.“

Eine Woche – wer soll das aushalten?

Meine Frau ist wach. Mir kommt es absurd vor, doch es ist, als wolle sie sich entschuldigen: „Es war nichts mehr zu machen.“ Reflexartig stellt sich die Frage, ob die Frühgeburt hätte verhindert werden können. Zu viel Stress?

Wir erfahren: Wir hatten keine Chance. Eines der Kinder hatte eine Infektion. Der Körper reagiert auf die Babys wie auf einen Krankheitserreger: mit Rausschmiss.

Besuch in der Neonatologie. Es geht durch eine Schleuse in den Raum der Regeln, in dem die Kinder nun wachsen sollen.

Erstens: ständig Hände desinfizieren. Die grün-türkisfarbenen Flaschen stehen überall. Zweitens: absolutes Besuchsverbot bei Erkältung. „Keime und Infekte sind gefährlich, auch wenn die Kinder Antibiotika bekommen.“

Beide Kinder liegen in Inkubatoren aus Plexiglaskästen, Seite an Seite. Unter der Scheibe werden Wärme und Feuchtigkeit so gesteuert, dass die Körper 37 Grad Körpertemperatur halten. Eine Schwester sagt: „Wir versuchen, den Mutterleib zu ersetzen. Leider sind wir noch nicht so gut wie die Natur.“
Aber fast. Ärzte und Schwestern arbeiten mit Ruhe und Sorgfalt. Das gibt Sicherheit.

Beide Töchter liegen da und atmen, hin und wieder zucken sie. Ihre Färbung ist immer noch dunkelrot. Je ein Schlauch für die Beatmung, damit die jungen Lungen nicht zusammenfallen. Je ein Schlauch für Zucker-Salz-Lösung, um den Kindern Nährstoffe zu geben, die sie sonst durch die Plazenta bekommen hätten. Ein Fühler, der die Sauerstoffsättigung des Blutes misst, die nicht zu sehr absacken darf. Herzschlag, Blutdruck – jeder Wert hat sein eigenes Alarmsignal. Irgendetwas bimmelt oder schrillt ständig. Das macht mich nervös. Ich starre auf den Monitor und kontrolliere die Werte.

Die Schwester rät: „Lassen Sie sich von den Zahlen nicht verrückt machen.“ Aber ich kann nicht vom Bildschirm lassen.

An Tag zwei darf ich die Kinder zum ersten Mal berühren. „Nicht so zimperlich“, sagt die Schwester. „Die Kinder müssen merken, dass sie da sind.“ Hautkontakt ist wichtig.

Deshalb wird bald gekuschelt. Eine Schwester legt mir Rosa Brust, deckt sie zu. Was für ein Gefühl. Allein diese winzige Hand, die in meine Haut greift. Der Schutzreflex ist überwältigend. Aber Rosa hat schon Kraft, rupft sich die Elektroden vom Körper. Eine Schwester lacht: „Sie ist impulsiv.“

Dann Aufatmen: keine Blutungen in den Köpfchen.

Meine Frau wohnt die ersten vier Wochen in der Klinik. Ich versuche, so oft wie möglich dort zu sein. Zu kuscheln, zu wickeln – und zu füttern. Doch die Warnung des Arztes („Es wird ein Auf und Ab“) holt uns schnell ein. Das Handy klingelt. Mit Sofia gibt es Probleme. Ihr Bäuchlein ist angeschwollen.

Eine OP ist nötig, um ein vermutetes Leck im Darm zu schließen. 740 Gramm – und schon die erste Vollnarkose. Über zwei Stunden kämpfen die Ärzte. Erfolgreich.

Sofia darf zunächst nichts mehr zu sich nehmen. Erst am nächsten Tag gibt es einen neuen Ernährungsversuch.

Es ist die erste von sechs Operationen. Magen, Darm – Sofias Organe waren zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht bereit.

Wenn Zeit ist, lese ich in den ersten Tagen im Internet. Ich finde vor allem Schock-Studien: Lernschwächen, Allergien – die Wahrscheinlichkeit ist überall erhöht. Ich verbiete mir die Recherche: Statistik bedeutet im doppelten Einzelfall nichts.

Beide Kinder trinken nun Muttermilch. Erst aus der Sonde, bald darf ich füttern, mit der Flasche. Sie nehmen zu. 1000 Gramm, 2000 – inzwischen 3000. Nach jeder geschafften Marke baumelt ein Luftballon am Wärmebettchen.

Bald brauchen die Zwillinge nur noch Atemhilfen, dann atmen sie allein. Die Haut der Zwillinge blasst aus – heute sehen sie schon fast aus wie normale Kinder.

Ihr großer Bruder darf die Zwillinge erst acht Wochen nach der Geburt zum ersten Mal sehen. Wir wollten ihrm das Bild ersparen, seine Schwestern im ersten Überlebenskampf zu sehen. Nun nimmt er zärtlich die Hände seiner Schwestern und lächelt.


Dienstag dürfen Rosa und Sofia nach Hause - 121 Tage nachdem sie geboren sind.

Antworten

Gast

Es wird bestimmt nicht einfach sein, aber deine beiden kleinen werden es bestimmt schaffen. So kleine Frühchen sind zäher als man denkt, sie kämpfen sich durch!

Lg (Aria, ehemaliges Frühchen, 28.SW ;) )

Gast

Vielleicht bin ich ja ein bisschen vernagelt im Kopf, aber zwischen dem 1. Juni und dem 6. Juni liegen nach meiner Rechnung 5 und nicht 117 Tage.

Gast

Anne & Yella, es freut mich sehr, dass euch die "Geschichte" von meinen Zwillinge gut gefallen. Yella, ich hoffe auch, dass es deinen beiden Jungs wider gut geht. Anne, ich freu mich sehr, dass ich dich mit meinem Bericht berühren konnte :)
Wir sind ganz zuversichtlich, dass unsere Mädels sich gut entwickeln, die härteste Zeit haben sich ja schon überstanden.

Gast

Toll hoffe die beiden entwickeln sich gut. Wünsche euch ganz viel glück. Dein Bericht hat mich sehr berührt.

Gast

Danke. Sehr gut geschrieben. Schön, dass es deine Töchter geschafft haben. Nur das Datum des Notkaiserschnitts irritiert. Alles Gute weiterhin für euch fünf. Meine beiden Jungs mussten nach der Geburt auch jeweils auf die Neonantologie. Allerdings nur eine Woche. Der eine hatte eine Neugeboreneninfektion, der andere zu niedrige Blutzuckerwerte. Anstrengend fand ich schon diese wenigen Tage und hatte mich um so mehr gefreut, endlich mit den Jungs jeweils nach Hause zu dürfen. Heute sind sie 6 und 3 Jahre alt.

Gast

Würde ich ein Buch lesen wollen würde ich ein Buch lesen.

Gast

Ich hab vergessen zu erwehnen das aus Helena dann ganz spontan doch wider eine Sofia wurde. Also nicht wundern ;)

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